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Gruppenvergewaltigungen im Ruhrgebiet: Angeklagte erzählen von Paralleljustiz: „Sinti-Strafe ist schlimmer als das hier“

Gruppenvergewaltigungen im Ruhrgebiet: Angeklagte erzählen von Paralleljustiz: „Sinti-Strafe ist schlimmer als das hier“

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Gianni H., einer der Angeklagten im Prozess um die Gruppenvergewaltigungen. Foto: Daniel Sobolewski / DER WESTEN

Essen. 

Normalerweise spielt es für die Berichterstattung eher eine geringe Rolle, welche Herkunft die Urahnen von Straftätern haben.

Der Prozess um mehrere Gruppenvergewaltigungen im Ruhrgebiet ist aber kein normaler Fall. In dem Verfahren hat die Herkunft der fünf Angeklagten eine überraschende Relevanz erfahren.

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Den fünf jungen Angeklagten – sie sind zwischen 17 und 24 Jahre alt – wirft die Staatsanwaltschaft vor, immer wieder Schülerinnen an entlegene Orte gefahren und sie gemeinsam in wechselnder Konstellation zum Sex gezwungen zu haben.

Alle fünf stammen aus Sinti-Gemeinschaften. Ihre Familien leben seit vielen Generationen in Deutschland und im Ruhrgebiet. Das muss man wissen, um die Motive und das Verhalten einiger der Angeklagten zu verstehen.

So wurden am Mittwoch vor dem Landgericht Essen plötzlich Aspekte einer Parallelgesellschaft deutlich, die auch den Vorsitzenden Richter Volker Uhlenbrock sichtlich überraschten.

Sinti haben eigene Rechtssprecher

„Wir werden für unsere Taten auch von der Gemeinde bestraft. Und das ist zehn Mal so schlimm wie alles, was wie hier durchmachen“, erklärte Dean-Martin L., einer der fünf Angeklagten.

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„Wie soll ich das verstehen?“, fragte Uhlenbrock. Und L. erzählte von Strukturen, in die man von außen so gut wie keine Einsicht hat.

„Wir akzeptieren die Regeln, die im deutschen Rechtsstaat gelten“, so L. Aber es gebe unabhängig davon auch Rechtssprecher bei den Sinti, die ein eigenes Urteil fällen – an das sich alle Sinti hielten. „Wir werden dann verstoßen. Ich darf nicht mehr zu meiner Mutter oder einem anderen Verwandten.“ Im schlimmsten Fall gelte die Strafe lebenslänglich.

„Es gibt nichts Schlimmeres, als von der Familie verstoßen zu werden“

Solche Rechtssprecher gebe es in Essen und Gelsenkirchen – Namen wollte er auf Nachfrage des Gerichts nicht nennen.

Ob die Strafe denn nur für das Ruhrgebiet gelte, frage der Vorsitzende. „Nein, das gilt überall. Die Richter sprechen sich ab. Ich darf dann nie wieder mit einem Sinti reden.“

Anders als im deutschen Rechtsstaat könne man auch nicht in Berufung gehen. „Wenn das Urteil ausgesprochen ist, ist es ausgesprochen. Wenn ich dann zu meinen Verwandten gehe, dann sagen die: Geh! Das wird eingehalten von allen. Es gibt nichts Schlimmeres, als von der Familie verstoßen zu werden“, sagt er.

Auch Antonio H., der jüngste Angeklagte, erzählt vom Sinti-Gericht. Der Minderjährige ist der einzige der fünf Angeklagten, der nicht in einer JVA untergebracht ist. Noch gebe es kein Urteil der Sinti-Richter, aber er fühle sich jetzt schon ausgestoßen von der Gemeinde.

Nie als Sinto akzeptiert

Ein Leben ohne familiären Halt dürfte gerade jemandem, der in einer Gemeinschaft lebt, die ihre Mitglieder immer auffängt, tatsächlich Angst machen. H. hat zuletzt eine Förderschule besucht, hat keinen Beruf und offenbar Lernschwierigkeiten. Sein Vater ist seit einer Hirnhautentzündung spastisch gelähmt und zu 100 Prozent behindert. H. wuchs bei den Großeltern auf.

Und Joshua E. hat die Tatsache, dass er nie als echter Sinto akzepiert wird, offenbar Zeit seines Lebens zu schaffen gemacht – so erzählt er es zumindest vor Gericht.

Weil sein Vater kein Sinto ist, habe er nie ganz als Teil der Gemeinschaft gegolten. Er erzählt von sogenannten Zeltmissionen – Gottesdiensten, zu denen Sinti aus ganz Deutschland anreisten. „Wenn dort Jugendliche in einer Gruppe zusammenstanden und sich auf romanes unterhalten haben, haben sie automatisch deutsch gesprochen, wenn ich dazukam. Obwohl ich die Sinti-Sprache kann“, erzählt E., der im Gerichtssaal schüchtern und zurückhaltend auftritt.

In der Gemeinde habe er was gelten wollen, sei deshalb immer mit dem großen Audi seiner Familie durch Gelsenkirchen gefahren. „Damit fällt man auf. Ich hab auf cool gemacht.“ Freunde habe er früher kaum gehabt, war eher mit Mädchen befreundet. Die vier Mitangeklagten seien seine ersten richtigen Kumpel gewesen – alle sind Sinti. „Ich wollte unbedingt dazugehören“, sagt E.

Auffällig ist auch ein Frauenbild, das allen gemein zu sein scheint. Alle Angeklagten hatten schon vor den Taten feste Freundinnen, sprechen von Liebe. Joshua E. etwa war mit einem Mädchen zusammen, das er schon lange kannte – kennengelernt hatte er es auf einer Zeltmission in Bayern. „Wir haben uns verliebt“, erzählt er. Wenn man als Junge mit einer Sinti zusammen sei, und die Familie das merke, dann müsse man sie heiraten.

„Ich hatte neben ihr fast jeden Tag noch andere Mädchen“, sagt E. Davon habe niemand gewusst – und wenn doch, dann wurde darüber nicht geredet.