So erlebten Suchtkranke die erste Schicht „Putzen für Bier“
Am Mittwoch ist das deutschlandweit einmalige Projekt „Pick-up“ gestartet. Unter dem Slogan „Putzen für Bier“ räumen Suchtkranke als Ein-Euro-Jobber an Treffpunkten der Trinker- und Drogenszene auf. „Endlich kann ich ‘was Sinnvolles tun“, sagt Andreas, „endlich bin ich nicht mehr der Karl Arsch.“
Essen.
Die Aufbruchstimmung im Erdgeschoss der Essener Suchthilfe steckt an. Andreas (45, Name geändert) steht an diesem Mittwochmorgen aufgeregt vor dem nagelneuen Spind, schlüpft in die orangefarbene Latzhose, schnürt seine schwarzen Arbeitsschuhe. Es ist die erste Schicht des „Pick-up“-Projekts, besser bekannt unter dem griffigen Slogan „Putzen für Bier“. Ein ehrgeiziges Pilotprojekt für die Essener Trinkerszene, das deutschlandweit einmalig ist. „Endlich kann ich ‘was Sinnvolles tun“, sagt Andreas euphorisch, „endlich bin ich nicht mehr der Karl Arsch.“
Als Ein-Euro-Jobber werden Andreas und seine fünf Mitstreiter in den nächsten zwölf Monaten an Szeneplätzen in der City Spritzen und Scherben wegfegen sowie herumliegenden Müll einsammeln. Und dabei hin und wieder eine Flasche Billig-Bier erhalten. „Das Bier soll nicht Belohnung, sondern ein Anreiz sein, um überhaupt mitmachen zu können“, betont Suchthilfe-Projektleiter Oliver Balgar.
„Schwerstmehrfach“-Abhängige
Die Lebensläufe der „Pick-up“-Leute weisen erschreckende, aufwühlende Gemeinsamkeiten auf. Sie sind Erschöpfte, die grausam gestrauchelt, mühsam aufgestanden und dann doch immer wieder jäh gescheitert sind. „Schwerstmehrfach“-Abhängige, die ein Dutzend Entgiftungen hinter sich haben und etliche Methadon-Programme.
Auch hinter Andreas, dem gelernten Bergmann aus Walsum, liegen verlorene Jahrzehnte. In der Clique kam er über Alkohol und Haschisch zu Heroin und Kokain. Und irgendwann ins Gefängnis. „Ich habe neun Jahre Knast und drei Therapien hinter mir, meine Partnerin ist gestorben, und ich bin an Hepatitis erkrankt.“
Sie sind böse Blicke voller Verachtung gewohnt
Wenn die Leute der Trinkerszene am belebten Willy-Brandt-Platz, dem Entree zur „Einkaufsstadt“, schon vormittags an der Pulle hängen, bestrafen Passanten sie mit bösen Blicken voller Verachtung. Dabei sehnt sich auch Markus (47), Stammgast der „Krise“, dem Café der Suchthilfe, nach einem geregelten Tagesablauf und etwas mehr Bürgerlichkeit. „Ich will arbeiten“, sagt er.
Nach dem Einkleiden rinnen dicke Schweißperlen von seiner Stirn. „Ich bin nervös und habe heute Morgen schon drei Flaschen Bier getrunken.“ Eine Umfrage der Suchthilfe in der Trinkerszene bestätigt Markus’ Hoffnung. Drei von vier Befragten, so das Ergebnis, wünschten sich eine geregelte Beschäftigung.
Ein „neuartiger Versuch“
Projektleiter Balgar kennt die Argumente der Kritiker zur Genüge. Jener, die darüber den Kopf schütteln, dass „verkrachte Existenzen“ auch noch mit Bier aus Steuergeld verwöhnt werden. Doch der Projektleiter setzt auf das fachliche Wissen seines Hauses und hält selbstbewusst dagegen: „Es ist ein neuartiger Versuch, jene zu erreichen, bei denen wir mit den herkömmlichen Programmen gescheitert sind.“
Während der Arbeit in Parks und auf Plätzen sei Bier tabu, betont er. Gereicht werde es vorher, in der Mittagspause und am Ende der vierstündigen Schicht – macht über den Tag verteilt drei Flaschen.
„Vielleicht schaffen wir es in ein normales Leben“
Sandra (28), gelernte Erzieherin, versucht gerade, mit Hilfe von Ersatzdrogen „clean“ zu werden. „Ich führe auch ein Alkoholtagebuch und gehe bald in die Entgiftung.“ Ihre Ziehschwester Miriam (34), einst heroin- und kokainabhängig, ist bereits substituiert. „Ich hab’ damit nichts mehr zu tun“, sagt sie. „Statt Bier nehme ich lieber ein Päckchen Tabak.“
Mit dem Projekt betritt die Suchthilfe republikweit Neuland. Aber nicht nur Suchthilfe-Kollegen aus ganz Deutschland schauen nach Essen. „Neulich war ein Team des südkoreanischen Fernsehens hier, wir haben Anfragen amerikanischer Sender und der BBC“, berichtet Oliver Balgar stolz.
Sandra, ganz in Stadtreinigungs-Orange gewandet, freut sich darauf, endlich im Dreier-Team mit Schaufel, Besen und Müllwägelchen auszurücken. Als die kleine Kolonne vom Willy-Brandt-Platz an der Hauptpost vorbei in die Hachestraße einbiegt, erntet sie keine bösen Blicke mehr, sondern Schulterklopfen. „Toll, dass ihr aufräumt“, sagt einer. Da spricht Sandra aus, wovon die anderen auch träumen: „Vielleicht schaffen wir es in ein normales Leben.“