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Gelsenkirchen und Schermbeck: Missbrauch und Messer-Attacke frei erfunden – Experte gibt tiefe Einblicke

Zwei erfundene Kapitaldelikte in Gelsenkirchen und Schermbeck haben für großen Wirbel gesorgt. Ein Experte ordnet die Fälle ein.

© imago images/Fotostand/ K.Schmittx

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Das ist die Polizeiliche Kriminalstatistik 2023 für Nordrhein-Westfalen.

Wegen zwei Fahndungen zu angeblichen Kapitaldelikten in Gelsenkirchen und Schermbeck ist die Verunsicherung in der Bevölkerung enorm gewesen. In Gelsenkirchen hatte eine 15-Jährige angezeigt, von zwei Männern entführt und missbraucht worden zu sein (mehr dazu hier >>>). Einen Tag später stellte sich heraus, dass sich die Tat gar nicht ereignet hatte.

In Schermbeck herrschte noch länger quälende Ungewissheit nach einer angeblichen Messer-Attacke auf eine junge Frau (23 Jahre). Lange fürchtete die Nachbarschaft, dass ein Mann wahllos auf die 23-Jährige eingestochen und noch auf freiem Fuß sein könnte. Erst zehn Tage nach dem Vorfall kam ans Tageslicht, dass die junge Joggerin sich selbst verletzt hatte (alle Details hier >>>).

Die Polizei hält sich zu den Motiven in beiden Fällen zurück. Im Gespräch mit DER WESTEN weist der Psychologe Sebastian Bartoschek aber auf erhebliche Unterschiede der beiden Fälle hin.

Gelsenkirchen und Schermbeck: „Hochpersönliche Motive“

Grundsätzlich sagt der Herner Psychologe, dass es die unterschiedlichsten Gründe gibt, eine Straftat zu erfinden. Er spricht von „hochpersönlichen Motiven“, zum Beispiel, um etwas zu vertuschen. Gerade bei Jugendlichen sei nicht zu vernachlässigen, dass sich die Heranwachsende noch ausprobieren. Nach dem Motto: „Was passiert eigentlich, wenn…?“.


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Ein Hauptproblem bestehe dann bei Kindern und Jugendlichen darin, dass sie keinen Ausweg mehr finden. Was in einer Flunkerei beginnt, kann in einem Lügenkonstrukt enden, dessen Dimensionen den Heranwachsenden oft nicht bewusst sind. Erwachsene stehen dann laut Sebastian Bartoschek in Fällen wie dem aus Gelsenkirchen vor einem Dilemma. Man müsse die Vorwürfe natürlich ernst nehmen. „Aber man sollte natürlich auch aufzeigen, dass es einen Weg gibt, Aussagen zu widerrufen.“ Das sei etwa bei Missbrauchs-Fällen allerdings ein schmaler Grat. Die Gefahr, dass Betroffene sich nicht ernst genommen fühlen, sei immens.

Sebastian Bartoschek ist Psychologe aus Herne. (Archivbild) Foto: Gero Helm / FUNKE Foto Services

Politische Motive?

In dem Fall aus Gelsenkirchen wurde zu allem Überfluss nach zwei Männern mit arabischem Akzent gefahndet. Ein angeblicher Fakt, der von der Neuen Rechten im Netz gerne aufgenommen und verbreitet wurde. Bartoschek erinnert das an zahlreiche Anzeigen nach der Flüchtlingswelle von 2017, als zahlreiche Straftaten von Menschen aus dem arabischen Raum angezeigt worden seien, die sich ebenfalls als erfunden herausstellte. Damals steckte hinter der ein oder anderen Anzeige auch politische Motive. „Jetzt ist die politische Gesamtstimmung wieder angespannt“, erinnert Bartoschek, ohne der 15-Jährigen persönlich den Vorwurf machen zu wollen, das ausnutzen zu wollen.


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Den Fall aus Schermbeck müsse man allerdings aus anderer Perspektive betrachten. Ein derart selbstverletzendes Verhalten deute auf schwerwiegende Probleme hin. Nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen, würde sich ein psychisch gesunder Mensch niemals lebensgefährlich verletzen.

>>Anmerkung der Redaktion<<

Zum Schutz der betroffenen Familien berichten wir normalerweise nicht über Suizide oder Suizidversuche, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit.

Wer unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leidet oder jemanden kennt, der daran leidet, kann sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie ist erreichbar unter der Telefonnummer 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.