Mülheim.
Man muss nicht der Pubertät entwachsen sein, um bestialische Verbrechen begehen zu können.
Christian Lüdke weiß das. Der Essener Psychotherapeut hatte oft mit jugendlichen Straftätern zu tun: Kinder, die die kriminelle Energie hartgesottener Schwerverbrecher haben.
Mülheim: Frau vergewaltigt – Tatverdächtige sind noch Kinder
Kinder, die vielleicht so sind wie die fünf Jungen, die in Mülheim eine junge Frau in einen Wald gelockt, brutal geschlagen und missbraucht haben sollen. Die junge Frau ist traumatisiert, wird nie wieder das Leben haben, das sie vor der Tat hatte.
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Drei der Tatverdächtigen sind 14 Jahre alt, zwei gerade einmal zwölf. Sie stammen aus Bulgarien, ihre Familien leben erst seit einigen Jahren in Deutschland. „Häufig haben Kinder, die solche Taten begehen, schwere Bindungsstörungen“, erklärt Lüdke.
Sie stammen aus kaputten Familien, haben keine Vorbilder, kennen keine Kontrollinstanzen. Unabhängig vom aktuellen Fall sagt Lüdke: „In solchen Extremfällen, wenn es zum Beispiel auch um clanähnliche Strukturen geht, haben die Eltern schon eine hohe kriminelle Energie. Die Kinder werden von Anfang an gedrängt, gegen Regeln zu verstoßen.“
„Krankes Frauenbild“
Er habe oft erlebt, dass Jungen aus solchen Familien ein „krankes Frauenbild“ haben. „Die denken: Frauen kann ich mir einfach nehmen, kommen vielleicht schon früh an viel Pornomaterial.“
Die fünf Jungen sollen als Gruppe agiert haben, der Fall weckte unweigerlich Assoziationen: An die Gruppenvergewaltigung in Velbert, an die Gruppenvergewaltigung in Freiburg, an die Gruppenvergewaltigung in Essen. Alle Fälle sind innerhalb der letzten zwei Jahre passiert, immer waren die Täter noch sehr jung.
Insgesamt gehe die Zahl der Gewaltdelikte innerhalb der Gruppe der 12- bis 21-Jährigen deutlich zurück, betont Lüdke. Bei Sexualverbrechen hingegen nimmt sie zu.
„Die wissen, dass sexueller Missbrauch eine schlimme Sache ist“
Dass sie etwas Schlimmes tun, sei den meisten jungen Straftätern durchaus bewusst. „Das Unrechtbewusstsein entwickelt sich beim Menschen mit etwa sieben Jahren. Mit 12 weiß man auf jeden Fall, dass sexueller Missbrauch eine schlimme Sache ist“, sagt Lüdke.
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Nur sei die Gruppe, der Freundeskreis, für die Jugendlichen extrem wichtig. „Das ist erst mal normal bei Jugendlichen, in diesen Fällen aber nimmt das hässliche Züge an.“ Denn der unbedingte Willen, zur Gruppe zu gehören, sei dann größer als das Unrechtbewusstsein. Die Gruppe sei wie eine Art Ersatzfamilie, sagt der Therapeut. Einer sei in der Regel der Anführer und ziehe die anderen mit seiner kriminellen Energie mit. „Die haben dann Angst, ausgegrenzt zu werden oder bestraft zu werden, wenn sie nicht mitmachen.“
„Auf ekelhafte Weise erwachsen geworden“
Kinder, die dennoch derart schwere Verbrechen begehen, seien durch ihre Biographie „auf ekelhafte Weise erwachsen geworden“. Durch das Unterdrücken von anderen bekämen sie das Gefühl: Ich bin jemand.
Besonders schlimm: Die Prognose bei solchen Kindern und Jugendlichen ist häufig sehr schlecht, sagt Lüdke. „Man fragt mich manchmal, wie man die resozialisieren kann. Die Antwort ist: gar nicht. Denn die sind ja gar nicht erst sozialisiert worden.“
„Die sind so eiskalt gewesen“
Er plädiere deshalb für deutliche Strafen, damit ein echter Lerneffekt eintreten könne. Eine Herabsetzung der Strafmündigkeit will er aber nicht. „Unser Jugendstrafrecht ist sehr gut“, so Lüdke. Aber es müsse Ausnahmen in ganz besonderen Einzelfällen zulassen. „Ein 22-jähriger Straftäter kann nach Jugendstrafrecht verurteilt werden, wenn bei ihm Reifedefizite festgestellt werden. Andersherum sollte das auch gehen.“
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Etwa wenn man sehe: „Die sind so eiskalt gewesen, haben so brutal gehandelt. Dann müsste man auch Sanktionen für jüngere Jugendliche zulassen.“ Eine Möglichkeit etwa wäre die Unterbringung in sogenannten Jugenddörfern.