Der Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph M. Schmidt, äußert sich im Interview besorgt: „Irgendwann würde das kaum noch zu schultern sein.“
Essen.
Christoph M. Schmidt, der Vorsitzende der Wirtschaftsweisen und Chef des Essener Instituts RWI, blickt mit Sorgen auf die Flüchtlingskrise. Im Gespräch mit Ulf Meinke spricht er über Deutschlands Verantwortung, die Folgen geschlossener Grenzen und seine Prognose für den Arbeitsmarkt.
Ist die Flüchtlingskrise beherrschbar?
Schmidt: Im Augenblick schon, doch die entscheidende Frage ist, wie viele Menschen noch nach Deutschland kommen werden. Wenn der Zustrom nicht nachließe, gerieten wir an die Grenzen der Tragfähigkeit unseres Systems. Ich denke dabei nicht zuletzt an Schulen, Kindergärten, Sportvereine, aber auch die Arbeit der vielen Ehrenamtlichen. Irgendwann würde das kaum noch zu schultern sein. Die Integration muss ja vor Ort erfolgen, aber viele Kommunen sind schon jetzt überschuldet und fragen zu Recht: Wie sollen wir noch mehr schaffen?
Arbeitslosigkeit wird zunächst wieder steigen
Welche Folgen hat die wachsende Zahl von Flüchtlingen für den heimischen Arbeitsmarkt?
Schmidt: Nicht nur die Beschäftigung, auch die Arbeitslosigkeit wird zunächst steigen. Das lässt sich schon heute absehen, denn es werden Hunderttausende Menschen auf den Arbeitsmarkt kommen, vorwiegend junge Männer. Am Anfang wird es sehr, sehr schwer sein, die meisten von ihnen in Arbeit zu bringen. Ob und in welchem Ausmaß ihre Integration langfristig gelingen wird, lässt sich anhand der derzeit vorhandenen Informationen kaum seriös vorhersagen.
Viele Unternehmen hoffen auf neue Fachkräfte. Sehen Sie das Potenzial dafür bei den Flüchtlingen?
Schmidt: Wir haben zwar immer noch wenig gesicherte Informationen zu den Qualifikationen der Zuwanderer. Es dürfte sich aber bei vielen Flüchtlingen lohnen, sie umfassend zu qualifizieren, damit sie sich dann besser in den Arbeitsmarkt in Deutschland einbringen können. Andere wiederum haben dieses Potenzial nicht und sollten lieber rasch in Arbeit gelangen. Wir sollten daher anerkannte Flüchtlinge für eine begrenzte Zeit vom Mindestlohn ausnehmen, so wie es bei Langzeitarbeitslosen schon jetzt möglich ist. Generell gilt: Die Zuwanderung, die wir derzeit erleben, kann kein Ersatz für eine geordnete Zuwanderungsstrategie sein, die wir vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft benötigen.
Wird die Integration von Flüchtlingen teuer für die Gesellschaft?
Schmidt: Die Bewältigung dieser Herausforderung wird uns schon abverlangen, unseren materiellen Wohlstand ein Stück weit zu teilen. Das sollte uns aber nicht daran hindern, unserer Verantwortung gerecht zu werden. Deutschland sollte international diese Verantwortung übernehmen und Menschen, die vor Krieg flüchten müssen oder vertrieben werden, Zuflucht gewähren. Zumindest in einem zumutbaren Maße – wir sind natürlich nicht dazu verpflichtet oder in der Lage, die ganze Welt aufzunehmen.
Was wäre die Folge von geschlossenen Grenzen innerhalb Europas?
Schmidt: Das wäre nicht nur ein Rückschritt für den Binnenmarkt, sondern vor allem auch politisch ein schlechtes Signal. Offene Grenzen innerhalb Europas sind eine Errungenschaft und gehören zum europäischen Versprechen, das gesicherten Frieden und wachsenden Wohlstand umfasst.
Bundesregierung brauche europäische Partner
Was sollte die Bundesregierung nun tun?
Schmidt: Die Bundesregierung steht vor der Herausforderung, die Zuwanderung nach Deutschland in geordnete Bahnen zu lenken. Dazu braucht sie die europäischen Partner. Die Flüchtlingskrise ist ein europäisches Problem, wir brauchen also einen gemeinschaftlichen Ansatz und eine sinnvolle Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Europas.
Sollte die Bundesregierung den Druck auf die europäischen Nachbarn erhöhen?
Schmidt: Es kann sein, dass in den Gesprächen auf europäischer Ebene ein Drohszenario gefordert sein wird, das auch innereuropäische Grenzkontrollen nicht ausschließt. Das Beispiel der Griechenland-Krise hat gezeigt, dass eine Verweigerungshaltung gelegentlich mit Druck aufgebrochen werden muss. Auf dem Weg zu einer Lösung wird Deutschland viel riskieren müssen. Aber Europa war immer ein Konstrukt, das im Feuer stand und dennoch vorangekommen ist.
„Unfehlbare Druiden gibt es nicht“
Sie sind für weitere drei Jahre zum Vorsitzenden des Sachverständigenrats gewählt worden – bis Ende Februar 2019. Wie wollen Sie dem Gremium noch mehr Gehör verschaffen?
Schmidt: Wir sehen unsere Rolle als unabhängige Berater und Aufklärer für Politik und Gesellschaft. Dieses Profil eines kritischen Begleiters der Wirtschaftspolitik möchte ich weiter schärfen.
In Deutschland werden die Mitglieder des Sachverständigenrates zwar auf Vorschlag der Bundesregierung vom Bundespräsidenten für jeweils fünf Jahre berufen, Wiederberufungen sind möglich. Aber während der Amtszeit sind Abberufungen nicht vorgesehen, und der Vorsitz wird allein von den Mitgliedern des Sachverständigenrates bestimmt. Das unterstützt uns dabei, im Umgang mit der Bundesregierung unabhängig zu bleiben.
Häufig wird den Wirtschaftswissenschaften vorgeworfen, sie seien neoliberal. Zu Recht?
Schmidt: Unser Selbstverständnis ist, möglichst vorurteilsfrei an die Dinge zu gehen. Wir sind Wissenschaftler, keine Vertreter der Wirtschaft oder Lobbyisten. Wir sind Freunde des Marktes als Koordinationsinstrument, aber nicht Freunde einzelner Marktteilnehmer, also nicht das Sprachrohr der großen und etablierten Akteure, sondern Anhänger des Wettbewerbs. Ich empfinde die Diskussion in den Wirtschaftswissenschaften mittlerweile als eher sachorientiert, es geht nicht mehr vorrangig um Ideologien.
Zu Ihrem Geschäft gehört, Prognosen zur künftigen wirtschaftlichen Entwicklung abzugeben. Nicht immer werden solche Vorhersagen zur Wirklichkeit.
Schmidt: Den Status des unfehlbaren Druiden gibt es nicht. Es liegt in der Natur der Sache, dass Prognosen meist etwas, gelegentlich sogar mehr daneben liegen. Was bei Konjunkturprognosen aber gerne vergessen wird, ist, dass es eigentlich gar nicht um die korrekte Vorhersage bis auf die Nachkommastelle geht. Sondern es geht vielmehr darum, Einflussfaktoren richtig einzuschätzen und Tendenzen zu erkennen. Und darin ist unsere Disziplin häufig besser als ihr Ruf.